The Lybic Hypertonic Suite
"The Lybic Hypertonic Suite" von Ingeborg
Poffet (2009) 9'32''
für Sinfonie- oder Kammerorchester und Solisten
Flöte(n), Oboe(n), Klarinette(n), Horn(Hörner),
Trompete(n), Fagott(e), Pauke, Woodblocks, Marimba, Saxophon, Accordeon, Violinen1,
Violinen2, Viola, Celli, Kontrabässe
eine musikalische Abhandlung zum Thema Hypertonie, dem Bluthochdruck, und Lübeck
Werkkommentar
Die Bezeichnung der traditionell komponierten Suite bezieht sich einerseits
auf die verschiedenen, in allen Teilen verwendeten tänzerischen Rhythmen,
wie 7/8 oder 3/4, aber auch auf die formale Gruppierung von 3 grossen Sätzen
mit den insgesamt 5 Teilen A bis E. Für klassisches Kammerorchester zuzüglich
Bläser und Percussionisten geschrieben, wird ebenso das Accordeon als Soloinstrument
verwendet, das mit den entsprechenden orchestralen Registern auf sensibler und
virtuoser Ebene die Funktion einer Orgel aufgreift, dies in Anlehnung an den
berühmten Lübecker Organisten Dieterich (Diderik) Buxtehude (gest.
1707 in Lübeck).
Schon der Titel der Suite verweist inhaltlich auf das Wortspiel:
das von mir erschaffene Kunstwort „lybic“ soll das deutsche Adjektiv
„lübisch“ für „lübsch“ resp. „lübeckisch“
sowie das im Deutschen umgangsprachlich phonetisch nicht zu unterscheidende
„libysch“ (von Libyen) zusammenfassen. Libysches Skalenmaterial
wird in der Suite stellvertretend für (nicht vorhandene) „lübische
Tonalität“ verwendet, wobei im E-Teil im Tourette-Thema typisch deutsche
Anleihen auftauchen.
Die Doppeldeutigkeit der Skala verweist auf das Grundthema des Blutdrucks und
somit auch der Hypertonie: die Systole und die Diastole.
Im Spannungsfeld dieser Werte entwickelt sich das gesamte Leben, manchmal in
grenznahen, gefährlichen Gebieten.
„The Lybic Hypertonic Suite“ versucht nicht den zu hohen Blutdruck
via Höreindruck zu senken (!), sondern ihn darzustellen.
Das Zusammenspiel der Hormone, Neurotransmitter, Regelkreise mit negativer Rückkopplung,
Stellglieder und Pressorezeptoren wird hier musikalisch aufgegriffen (1).
Werden in der Einführung im A-Teil zunächst gemeinsame harmonische
Aktivitäten im Blutstrom dargestellt, wird im B-Teil zudem mit dem Echo
gespielt, den die einzelnen Instrumente im Ohr (resp. Wernicke-Areal des Gehirns)
hinterlassen, ähnlich dem Abdruck auf der Netzhaut, der nur langsam verblasst.
So dominieren einzelne Stimmen im Solospiel, die sich in der Korrespondenz mit
anderen jedoch überlagern, verwerfen, kommentieren, nachfragen, wie auch
die Botenstoffe des Körpers neue Meldungen signalisieren, die entweder
verarbeitet, in die Waagschale für Korrekturen geworfen und beachtet oder
aber verworfen oder unterstützt werden.
So komplex und verworren das Spiel der einzelnen Elemente – der Instrumente
im Stück wie auch der Transmitter im Körper - bei aussenstehender
Betrachtung auch sein mag, ist es doch stimmig in seiner jeweiligen Funktion.
Die Achtelfiguren führen zu umliegenden Reaktionen – z.B. Zustimmungen
als unisono-Passagen – und immer öfter auftauchenden Viertelnoten,
die später ausnahmslos vom Woodblock aufgegriffen werden, als Bestätigung
eines Zustandes, der nun aktiviert werden soll.
Die Durchführung der Motive greift die Gleichförmigkeit des Herzschlages
auf, der doch unendlich variiert und sich praktisch nie wiederholt (2). Endlos
getrieben in 5-6 Litern Blut durchströmen Adern und Venen Massen von Antikörpern,
Thrombozyten, Erythrozyten, T-Helferzellen, Sauerstoff, Nährstoffe und
einer Vielzahl von Effektor- und Kommunikationsmolekülen mitsamt ihren
zellulären Trägern zur Überbrückung räumlicher Distanzen
im Körper, kurz, ein unglaubliches Gedränge und Getöse bis in
die kleinsten Kapillaren (3). Schon eine Veränderung der Körperhaltung
variiert die Druckverhältnisse, ein Gedanke kann Herzrasen auslösen.
Die scheinbare Monotonie des ewig Gleichen in geordneten Bahnen und Verhältnissen
weicht bei genauerem Blick einer Vielfalt zwar immer wieder regulärer Abläufe,
doch modifizieren etliche Parameter fortlaufend, sodass im Sog der Pumpleistung
schon wegen der sich ständig ändernden Stellweite der Venenwände
sich endlos neue Kombinationen der Verhältnisse ergeben. Was gemeinsam
bleibt, ist das Fliessende, Treibende, der Druck. Die Systole und Diastole verändern
sich innert 24 h fortwährend, je nach Situation, Bedarf oder Umständen
(4).
So entsprechen auch die solistischen Motive den einzelnen Funktionen, isolieren,
entwickeln sich weiter und korrespondieren mit allen anderen Systemen (musikalisch
die Systeme in der Partitur). Manchmal implodieren die Motive, manchmal exponieren
sie sich, verwerfen sich selber oder bauen sich plötzlich zu einer Salve
auf, so wie eine kurzfristige körperliche oder psychische Anspannung Extrasystolen
bei entsprechender Disposition auslösen kann (5). Mit der Tonalitätsverschiebung
zu C-Moll deutet sich Unheilvolles an, innert kürzester Zeit wird eine
Spannung aufgebaut, die sich sofort entladet: der Druck eines hypertensiven
Notfalls wird mit dem C-Teil (Hypertonic Weil) dargestellt. Nicht nur die schnellen
Läufe des Akkordeons sorgen für die nötige Anspannung, auch die
Tritonusverhältnisse zur Melodie stellen die grösstmögliche Distanz
und Spannung zur Tonika dar. Treibende 3 gegen 2 münden in die Notwendigkeit
einer medikamentösen Behandlung mit beispielsweise dem schnell wirkenden
Urapidil (6). Das luftanhaltende Erwarten der Wirkung bezeichnen die letzten
2 Takte mit liegenden Tönen, das Ende des Anfalls.
Im C-Teil kumuliert also das physiologische Zusammenspiel zu einer massiven
Kontraktion, das orchestral den gesamten Körper darstellt, der in eine
zielgerichtete Aktion – der Hypertonie - mündet, nur um sich daraufhin
wieder verschiedensten Elementen zuzuwenden – mental und physiologisch
gesehen, so als sei vorher nichts geschehen (sofern keine schädigende Organmanifestation
vorliegt). Doch wir ändern nur die Perspektive im nun sedierten Körper.
Denn der D-Teil im ¾-Takt, Hypertonic Tourette (die Namensgebung ist
eine Anspielung auf das sich endlos und zwangsläufig – wie beim Tourette-Syndrom
- immer wiederholende Motiv), beobachtet die Bahn eines Erythrozyten, beladen
mit Hämoglobin, auf seiner Reise ins Atrium dextrum, durch die Trikuspidalklappe
in den rechten Ventrikel, von dort durch den Truncus Pulmonalis, beim leichten
Austausch seiner CO2-Ladung durch Sauerstoff in der Lunge. Die Grundstimmung
ist leicht, beschwingt, heiter, so wie die normale Arbeit des Erythrozyten durch
seine guten Sauerstoff-Bindungsfähigkeiten im optimalen Fall ablaufen kann,
unterstützt durch sanft vorantreibenden Streicher auf der 2. Viertel. Anrempeln
durch Mitreisende der Blutbahn wirkt vergnüglich, dargestellt durch Off-Einlagen
der Oboe und Synkopen der Trompete. Ein beschwingtes Hin- und Herschweifen im
ewigen Zyklus des Normotonen (7). Sein heiterer Weg führt zurück ins
Atrium sinistrum, der Mitralklappe und den linken Ventrikel, bevor es den bekannten
Weg antreten wird, weiter in den Körper, wo es bei einer der Zellen seine
Ladung wieder eintauschen wird. Das Ausstossen durch die Aortenklappe in die
Aorta und damit den Weg durch den Körper wird eingeleitet mit dem endlich
einsetzenden Thema (Teil E), das - wie der Erythrozyt beim Weg durch den Lungenkreislauf
- zielstrebig vorbereitet wurde, und dem nun eindeutig der Wiener Walzer zugrunde
liegt. Die Tonalität liegt bei G-Major und F-lydisch (man ist geneigt,
F-lübisch zu sagen). Somit sind in der Suite lybisch, lübisch und
lydisch vertreten - ein umso vergnüglicheres Wortspiel, wenn man um die
phonetische akustisch/visuelle Verschiebbarkeit der Konsonanten d und b weiss
(McGurk-Effekt) (8).
Grosszügigkeit (des grossen Kreislaufs mit seinen langen Wegen) und Gelassenheit
(elastische Adern) werden hier gleichermassen interpretiert durch die längeren
Melodiebögen und wiederkehrenden ganztaktigen Auftakte in 3 Portato-Vierteln,
die Punktierte Halbe im Metrum 188. Die beruhigende Wirkung auf den Körper
dieses Tempos wurde bei verschiedenen Studien belegt, so soll es auch hier den
Blutdruckberuhigten in Gleichmut wiedergeben.
In dieser Suite soll der hypertone Druck vor allem dargestellt werden in zu
engen Arterien, mit langsamem Puls zur Spitze getrieben. Die innere Anspannung,
die nicht einfach der Ruhe weichen kann, sondern die sich ewig spiralisierend
drehende Notwendigkeit des Nachgebens soll eingefangen werden im Abbild der
Eigenrotation, damit sich die Energie kumulieren und entfalten kann in gemeinsamer
Ekstase, die sich schliesslich in eng umschlungenen tutti-Melodiebögen
sanft beruhigen darf. Dies geschieht während des Tourette-Themas im Wiener-Walzer-Teil.
(- Hier findet sich das Lübecker Unabhängigkeits-Element wieder, weist
der Begriff „Walzer“ doch auf die Unabhängigkeit von der Volta
und auf die Herkunft aus dem östr.-bajuwarischen Raum hin ebenso, wie er
die tänzerische Grundhaltung (enger Drehtanz) treffend beschreibt.
Historisch spiegelt die Ablösung des Menuetts durch den Walzer nicht nur
diejenige der Noblesse durch die Bourgeoisie wider, sondern lässt geradezu
von einem demokratisierenden, alle Schichten vereinenden Zug sprechen (9). Auch
hierin wird die Geschichte Lübecks widerspiegelt, die aus der Unabhängigkeit
den Weg der Demokratisierung beschritten hat.)
Der Blutdruck kann nun sinken, die Hypertonie ist bekämpft, für einen
unbestimmten Moment wenigstens.
Doch sie wäre nicht derart heimtückisch, wäre nicht das kleinste
Geräusch, eine Unachtsamkeit in der Lage, den „Kreislauf“ zu
wiederholen. Die erneute Adrenalinausschüttung führt damit zur Gefässverengung
und dem sich wieder erhöhenden Blutdruck (10). Die den Anfang wiederaufgreifende,
formabrundende Coda respektive modifizierte Reprise führt in diese Situation
und lässt das Ende offen: beruhigt sich die Lage, oder spitzt sie sich
erneut zu …?
1) Biologie, Anatomie, Physiologie, Nicole Menche, Urban & Fischer, Elsevier,
S.6, ISBN 3-437-26800-7
2), 4) Gerold Baier, Rhythmus, Tanz in Körper und Gehirn, rororo, science-sachbuch
60822
3) Basislehrbuch Innere Medizin, Renz-Polster/Krautzig/Braun, Urban & Fischer,
Elsevier, S.28, ISBN 978-3-437-44460-9
5) Essentials of Medical Physiology, K & Prema Sembulingam, Jaypee Brothers,
Cardiovascular System, S.522, ISBN 81-8061-826-9
6) Der hypertensive Notfall, Prof. Dr. Michael M. Hirschl, Uni-Med Science,
5.1.2.1., S.56ff, 2. bearb. Auflage 2004, ISBN 3-89599-699-8
7) Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, de Gruyter, Berlin-New York, S.1292,
ISBN 3-11-017621-1
8) Spektrum der Wissenschaft, Gehirn & Geist, 4/2009, S.8
9) Musik, metzler kompakt, S.325, ISBN-13: 978-3-476-02115-1
10) Wörterbuch Biologie, Gertrud Scherf, tosa-verlag, S. 69, ISBN 978—3-85003-026-7